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Klassik Heute (Germany)"10/10/10 Unbedingte Kaufempfehlung!".

December 28, 2019

Thomas Baack - Klassik Heute

Johann Sebastian Bachs sechs für die Traversflöte geschriebene Sonaten – jeweils drei mit obligatem und begleitendem Cembalo – sind hinsichtlich ihrer technischen und musikalischen Anforderungen die komplexesten Werke für diese Besetzung, die uns das Barock überliefert hat. Der geforderte ungewöhnlich große Tonumfang von d1-g3 – die meisten Zeitgenossen beschränken sich auf d1-e3 – hat zu der Spekulation Anlass gegeben, dass es sich hier um Auftragswerke für den Dresdner Hofflötisten Pierre-Gabriel Buffardin oder dessen Schüler und Kollegen Johann Joachim Quantz handeln könnte, jedoch sind bisher keine diesbezüglichen Quellen aus den Beständen der Sächsischen Hofkapelle ans Licht gekommen. Werke mit dem üblichen geringeren Umfang lassen sich problemlos auf einer Blockflöte in D, einer sogenannten Voice-Flute, in der Originaltonart spielen. Will man eine „normale“ Alt-Blockflöte verwenden, muss man die Stücke – wie bereits in den barocken Quellen vielfach beschrieben – um eine kleine oder große Terz aufwärts transponieren. Dies funktioniert mit den Bach-Sonaten wegen ihres erweiterten Umfangs nur mit Abstrichen, da es zwar Kopien nach Instrumenten der Bach-Zeit gibt, auf denen diese extrem hohen Töne, wenngleich mit Kniffen wie dem Abdecken des Schallbechers auf dem Oberschenkel, dynamisch variabel ansprechen (Denner-Modelle), diese aber über ein eher schwaches tiefes Register verfügen. Instrumente nach englischer Bauart (Stanesby/Bressan) verfügen zwar über eine sonore Tiefe, reagieren jedoch oberhalb von e3 (Voice)/g3(Alt) nur auf einen, der Klangqualität abträglichen erhöhten Blasdruck.
Eine moderne Lösung

Michala Petri, die „Primadonna assoluta ohne Allüre“ der Blockflöte löst dieses Problem radikal, indem sie auf „harmonische“ Blockflöten setzt, einen Instrumententypus, der durch längere Bauart - selbst Sopranflöten benötigen hier eine Doppelklappe – den Spielern einen erweiterten Umfang, eine weitere Dynamik und ein auch in großen Sälen tragfähiges Volumen verschafft. Diese Instrumente wurden in den 90er Jahren parallel für Moeck (Ralf Ehlert) und Mollenhauer (Joachim Paetzold und Nik Tarasov) entwickelt und liegen von der Klangcharakteristik in der Mitte zwischen einer Barockblockflöte und einer hölzernen Querflöte in konischer Bohrung, wie sie bis zum Zweiten Weltkrieg in vielen deutschen Orchestern geblasen wurde. Nachteil ist allerdings, dass diese Instrumente nur in moderner Stimmung (442 Hz) zur Verfügung stehen, was für das Cembalo – und in diesem Fall die Gambe – bedeutet, einen Halbton höher als gewohnt musizieren zu müssen.

Prüfsteine des Bach-Sonatenspiels sind die beiden düsteren Werke in h- und e-moll. Petri, die sich dank des bis e1 erweiterten Tonumfangs der Mollenhauer-Instrumente für die Originaltonart und nicht für die grifftechnisch einfachere Halbtontransposition nach c-moll entschied, und ihre Kollegen verzichten darauf, das Andante, dessen Anfangsduktus an die Bass-Arie „Erleucht‘ auch meine finstren Sinnen“ aus dem Weihnachtsoratorium anklingt, mit einem passionsartigen Trauerflor zu versehen. Sie stellen vielmehr die gezackten 32stel-Motive, die sich in den anschließenden – von Petri wundervoll schlackenlos im Legato phrasierten – 16tel Triolen nie ganz entspannen können, als Moment der Aggression klar heraus, so dass sich ein Bogen zu den trotzigen Synkopen des Gigue-Abschnitts im Presto-Finale ergibt. Ähnliches geschieht im Adagio ma non troppo der e-moll Sonate (hier nach g-moll inklusive des b3 als „Crí de coeur“ transponiert) wo die Zweierbindungen der 16tel nicht geschmackvoll angeseufzt, sondern als existenzielles Stöhnen wahrnehmbar werden. Ursprünglich hat mich der improvisatorische Einstieg in den chaconneartigen Bass des Andantes irritiert. Als Antwort im Gestus eines „sich erst einmal selbst wieder finden Müssens“ auf das im vorangegangen Allegro entfachte Feuerwerk, überzeugt es mich nach wiederholtem Anhören durchaus, wenngleich dieser Effekt der Ratlosigkeit „live“ noch stärker wirken dürfte.

Diskussionen dürfte die Verwendung der Gambe in den Sonaten mit obligatem Cembalo entfachen. Hier befinden wir uns in einem Grauzonenbereich. Die h-moll Sonate würde sich vom Charakter her durchaus als Bereicherung der 6 Sonaten a 2 Clav. et Ped. für Orgel anbieten. Ebenso wäre ein Arrangement als Trio für Flöte, Violine, Continuo denkbar. Somit stört die sehr differenziert eingesetzte Gambe Hille Perls den Gesamteindruck weniger als der eher farblose Klang des Cembalos in der Lage zwischen c1 und c3. Hier hätte eine massivere Registrierung oder aufmerksamere Aufnahmetechnik zu optimalen Resultaten führen können. Auch überzeugt mich das von Jukka Ollikka neu entworfene Cembalo mit Carbon-Resonanzboden nur bedingt, da es mich zu sehr an die Bach-Cembali des seligen Neupert erinnert, was allerdings auch an der für Cembali klanglich unfreundlichen hohen Stimmung liegen mag, die der spielerischen Brillanz Mahan Esfahanis den gebührenden Raum verweigert.
Vergleich mit der alten Aufnahme mit Keith Jarrett

Vergleicht man die neue Einspielung mit der 1992 eingespielten Version, muss das Urteil lauten: für die damaligen Verhältnisse durchaus eine Sensation, im Vergleich zur Neueinspielung technisch damals schon von einer unglaublichen Könnerschaft beflügelt, interpretatorisch jedoch viel zu brav – ein Umstand, der mir manche frühe Petri-Interpretation verleidet, was gerade dann peinlich auffällt, wenn die Gambensonaten auf nur bedingt historischen „Fifth Flutes“ musiziert werden, so klanglich nett und spannend das auch sein mag.. Oder zynisch formuliert: Heinz und Sabinchen spielen virtuos mit einem Sonatinchen. Um den Reifungsprozess Michala Petris nachvollziehen zu können, reicht einzig ein Vergleich mit BWV 1034/1.

Präsentation

Das Booklet mit Beiträgen aller drei Protagonisten ist höchst informativ und liegt dankenswerterweise auch in deutscher Übersetzung vor. Klangtechnisch erscheint mir das Cembalo etwas benachteiligt.

Fazit: Michala Petri, Mahan Esfahani und Hille Perl verweisen mit ihrem tiefen Eindringen in die Bach-Sonaten und ihre stupende Umsetzung des Erkannten sämtliche Aufnahmen mit Block- und moderner Querflöte auf die hinteren Plätze. Einzig Barthold Kuijken auf dem Traverso erreicht dieses Niveau annähernd. Faszinierend, wie sich Petris in flötistischer Sicht immer allen Zweifeln überlegene Interpretation zum Essentiellen gewandelt hat. Unbedingte Kaufempfehlung!.

Thomas Baack [29.12.2019]

Google Translation:
Johann Sebastian Bach's six sonatas written for the transverse flute - three each with an obligatory and accompanying harpsichord - are the most complex works for this instrumentation that the Baroque have handed down to us in terms of their technical and musical requirements. The required unusually large range of d1-g3 - most contemporaries limit themselves to d1-e3 - has given rise to speculation that these are commissioned works for Dresden court flutist Pierre-Gabriel Buffardin or his pupil and colleague Johann Joachim Quantz could, but so far no relevant sources from the holdings of the Saxon Court Chapel have come to light. Works with the usual smaller size can be easily played on a recorder in D, a so-called voice flute, in the original key. If you want to use a "normal" alto recorder, you have to transpose the pieces upwards by a minor or major third - as has already been described many times in the baroque sources. With the Bach sonatas, this only works with drawbacks due to their expanded scope, since there are copies of instruments from the Bach period on which these extremely high notes, although with tricks such as covering the bell on the thigh, respond dynamically variably ( Denner models), but these have a rather weak low register. English-style instruments (Stanesby / Bressan) have a sonorous depth, but above e3 (Voice) / g3 (Alt) they only react to an increased blowing pressure which is detrimental to the sound quality.
A modern solution
Michala Petri, the “prima donna assoluta without allure” of the recorder, solves this problem radically by relying on “harmonic” recorders, a type of instrument that, through its longer design - even soprano flutes need a double key here - gives the players an expanded scope and a further dynamic and provides a viable volume even in large halls. These instruments were developed in the 90s in parallel for Moeck (Ralf Ehlert) and Mollenhauer (Joachim Paetzold and Nik Tarasov) and the sound characteristics lie in the middle between a baroque recorder and a wooden flute in a conical bore, as used in World War II was blown by many German orchestras. The disadvantage, however, is that these instruments are only available in a modern mood (442 Hz), which means for the harpsichord - and in this case the viola - having to play a semitone higher than usual.
The two dark works in B minor and E minor are touchstones of the Bach sonata play. Petri, who opted for the original key rather than the easier semitone transposition to C minor thanks to the extended range of the Mollenhauer instruments up to e1, and her colleagues do without the Andante, whose initial style of the bass aria "Enlightened" too my sinister senses ”from the Christmas oratorio, with a passion-like black ribbon. Rather, they emphasize the jagged 32nd motifs, which can never completely relax in the subsequent 16th triplets - which Petri has wonderfully cinderlessly phrased in the legato - as a moment of aggression, so that a bow to the defiant syncopations of the gigue section results in the Presto final. Something similar happens in the Adagio ma non troppo of the E minor Sonata (transposed here in G minor including the b3 as "Crí de coeur") where the two-man bonds of the sixteenths are not tastefully sighed, but are perceived as existential groans. Originally, I was irritated by the improvisational entry into the chaconne-like bass des Andantes. As a response in the gesture of "having to find yourself again" to the fireworks that had been ignited in the previous Allegro, it convinced me after repeated listening, although this effect of helplessness should have an even stronger effect "live".
Discussions are likely to spark the use of the viol in the sonatas with compulsory harpsichord. Here we are in a gray area. In character, the B minor Sonata would definitely enrich the 6 Sonatas a 2 Clav. et Ped. offer for organ. An arrangement as a trio for flute, violin, continuo would also be conceivable. Thus the very differently used viol Hilbe Perls disturbs the overall impression less than the rather colorless sound of the harpsichord in the position between c1 and c3. Here a more massive registration or more attentive recording technique could have led to optimal results. Also, the harpsichord with carbon soundboard, newly designed by Jukka Ollikka, convinces me only to a limited extent, because it reminds me too much of the Bach harpsichords of Blessed Neupert, which may also be due to the high pitched sound, which is unfriendly for harpsichords, that of playful brilliance Mahan Esfahanis denied the due room.

Comparison with the old recording with Keith Jarrett
If you compare the new recording with the version recorded in 1992, the verdict must be: for the conditions at that time it was definitely a sensation, compared to the new recording it was already technically inspired by an incredible amount of skill at the time, but it was much too good to interpret - a fact that I found some early Petri interpretation disguises what is particularly embarrassing when the viola sonatas are played on historical "Fifth Flutes" only to a limited extent, as sonically nice and exciting as that may be. Or formulated cynically: Heinz and Sabinchen play virtuoso with a sonatinchen. To understand the Michala Petris ripening process, a comparison with BWV 1034/1 is sufficient.

Presentation
The booklet with contributions by all three protagonists is highly informative and, thankfully, is also available in a German translation. In terms of sound, the harpsichord seems somewhat disadvantaged to me.
Conclusion: Michala Petri, Mahan Esfahani and Hille Perl refer with their deep penetration into the Bach sonatas and their stupid implementation of the recognized all recordings with recorder and modern flute to the rear seats. Only Barthold Kuijken on the Traverso almost reached this level. Fascinating how Petri has always transformed the interpretation, which is superior to all doubts, into the essential. Unconditional buy recommendation!

Thomas Baack [29.12.2019]


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